Nicho Mailänder, Berggeist des Jahres 2023

Laudatio von Andi Dick

Unser Preisträger ist ein Berggeist und ein Wort-Geist – deshalb zur Einstimmung ein Stück Text von ihm: Er ist Unterwegs mit Pete Livesey, Anfang der 1980er Jahre, der siebte Grad ist noch nicht so richtig alt…

„Grinsend sitzt er neben mir, der „hässlichste Kletterer Englands“, wie er sich stolz nennt. Vor neun Uhr kriegt er seinen korkenzieherlockigen Halbglatzkopf nie vom Kissen, und danach auch bloß, wenn ihm jemand eine Tasse Twinings unter die platte Nase hält. Dann stopft er sich gewöhnlich seinen dürren Leib eine Stunde lang mit weißen Bohnen, klebrigem Weißbrot und Heinz-Spaghetti voll und fängt endlich an, im „Extremen Pause“ zu blättern. „Isn’t ther any proper climbing in the Dolomites?“ „Was soll das heißen? War die Messner-Führe durch die Nordwand des Zweiten Sellaturms gestern vielleicht kein „richtiges“ Klettern?“ „Easy rubbish!“ Pete schiebt seinen fliehenden Unterkiefer trotzig nach vorn. Peter Liveseys Ruf als bester englischer Kletterer war fast zehn Jahre lang unangefochten. Seine Freunde nennen ihn in spöttischer Hochachtung „God“. Er blättert im Buch, hält inne: „This looks good. Where is it?“ Ich schau ihm über die Schulter „Du spinnst, der Hermann-Buhl-Gedächtnisweg an der Rotwand ist 6, A2, der geht nie frei!“ „We’ll see!“

Tatsächlich kletterten die beiden die Hasse-Brandler bis auf etwa zehn Meter frei. Nun noch eine Kostprobe aus dem letzten Absatz

„Übergangslos ist die Wand zu Ende – der letzte Zug in der Senkrechten bringt mich auf eine beinahe horizontale Blumenwiese. Aber von wegen Rast und „weit schweift der Blick hinaus ins Heimatland“: „Let’s get out of here, man. I need a beer!“ Schnell tauscht der untreue Bergvagabund, im Zivilleben Dozent an einem englischen Teachers’ College, die stinkenden Kletterpatschen gegen die löchrigen Adidasschlappen und stopft mit hastigen Bewegungen seinen unaufgewickelten Seilsalat samt der Schlosserei in den Rucksack, ehe er über den Schrofenhang in Richtung Scharte davonrast, dass die Murmeltiere ohne Warnpfiff in ihren Höhlen verschwinden.“

„Panische Zeiten“ hieß diese Geschichte, die einst im „Alpinismus“ erschien, damals das Blatt der jungen Freikletterszene. Panik mögen einige Altvordere bekommen haben, die gerade erst den siebten Grad hatten schlucken müssen, und nun stand schon der achte im Raum, freigeklettert in einer Leuchtturmtour der Dolomiten, etabliert von unserem unvergessenen Dieter Hasse; Heinz Mariacher schaffte später die paar fehlenden Meter.

Und das ganze erzählt in einem Stil, der zwar der Vergangenheit bewusst ist, aber frech! und kündend von einer inneren Freiheit, dass alles möglich ist, wenn man es nur hart genug versucht. Reinhard Karl hatte mit seinen Fotos und seiner schnörkellosen, auch sich selbst gnadenlos sezierenden Sprache im Buch „Zeit zum Atmen“ ein neues Zeitalter eingeläutet für eine Alpinliteratur, die den Aufbruch über die Grenze des Menschenmöglichen hinaus dokumentierte – Reinhard hatte sie miterlebt als Fotograf und Nachsteiger Helmut Kienes in den Pumprissen. Genau so tat es auch sein guter, langjähriger Freund Nicho Mailänder, der die neue Welt des Freikletterns als Erstbegeher mitgestaltete.

Mich als jungen Kerl hat das völlig fasziniert, auch wenn mir die Dimensionen unerreichbar schienen. 1983 war ich mit Thomas Stephan am Grimsel klettern; ein nettes Pärchen, das Thomas kannte, hat uns am Parkplatz auf einen Tee eingeladen und von einem Freikletter-Versuch in der Marti-Flück am Tellistock erzählt: „dazu müsstest Du einen Achter flashen können“. Blasphemie! Unvorstellbar! Als ich auf einem herumliegenden Umschlag die Anschrift Nicho Mailänder gelesen habe, wurde mir manches klar – ich war beeindruckt, diese Lichtgestalt getroffen zu haben. Konnte mir aber nicht vorstellen, dass er und seine Frau Liz später gute Freunde werden würden, und dass Nicho mir so viele Türen zu den entscheidenden Etappen meines Lebens öffnen würde. Ich bin dankbar dafür, Euch heute ein bisschen was über diesen Menschen erzählen zu dürfen. Und möchte versuchen, aus der Vielfalt seines Lebenspuzzles, das ich ohnehin nicht exakt chronologisch sortieren kann, die Persönlichkeit Nicho verständlich werden zu lassen.

Denn Menschen zu verstehen, das scheint mir eine der prägenden Motivationen von Nicho. In einem seiner Lieblingsbücher gibt es die Tradition des „speaker for the dead“, der bei einer Beerdigung den Gestorbenen porträtiert, seine Antriebe analysiert und durch die Diskussion seiner Fehler auf Versöhnung der Hinterbliebenen hinwirkt. Diese Rolle ist eine wichtige Person in Nichos innerem Team – und ich möchte heute der „speaker for the living Nicho“ sein und ihm jubilieren.

In Nichos Leben erscheint wenig „normal“ oder durchschnittlich. Die Mutter verließ ihre Heimat England für einen Deutschen, direkt nach dem Zweiten Weltkrieg; diese innere Freiheit gaben die Eltern ihrem Sohn und seinem Bruder mit. Seine Jugend wurde geprägt durch die Erlebnisse in einer reichlich wilden Pfadfindergruppe. Später prägte er die Jungmannschaft der Sektion Stuttgart in einem anarchischen Geist, wie sich sein Eleve Roland Stierle erinnert, heute Präsident des DAV. Die modernsten Techniken wurden verwendet, Sicherung auf höchstem Niveau praktiziert, aber jeder lernte vom anderen durch Beobachten und eigenverantwortliches Umsetzen.

Selber denken, ausprobieren, Konsequenzen verantworten: das ist mein zweites Schlagwort zu Nichos Charakter. Das dritte ist das „Weitergeben“, ob als Lehrer oder später als Journalist. Das mag unter Freunden auch mal penetrant wirken in seiner begeisterten Überzeugtheit, meistens inspiriert es.

Weitergeben: Das tat er als studierter Lehrer in der Odenwaldschule, deren Ruf mittlerweile leider durch den Missbrauchsskandal beschädigt ist, die damals aber ein Leuchtturm der Reformpädagogik auf Augenhöhe war. Mit an der Schule war seine Frau Liz, der er nach Amerika nachgereist war, um die ältere Dozentin, die vor dem verliebten Studenten geflüchtet war, per Heiratsantrag zurückzuholen. Und in den Mittelgebirgen von Odenwald und Pfalz lieferte er sich Berglauf-Battles mit seinem Freund Reinhard Karl und eröffnete Kletterrouten und Highball-Boulder.

Auch im Donautal und auf der Schwäbischen Alb erschloss er harte Neutouren, nachdem er in die Nähe von Tübingen gezogen war. Kühn und schwer war sein Markenzeichen, provokante Namen selbstverständlich – Der Widerspenstigen Zähmung, Opas letzte Nummer – und bald erschienen kleine Topoführer im Notizbuchformat mit Karikaturen, an die sich nicht nur Heli Mägdefrau gern zurückerinnert, der sich am Lagerfeuer darüber gekringelt hat. Mit seinem Freund Achim Pasold gründete Nicho einen Verlag; Achims Nach- und Nichos Vorname ergaben den Namen „Panico“ – die panischen Zeiten lassen nicht zufällig grüßen. Aber die beiden Schwaben wagten es auch, der neuen alpinen Literatur eine Plattform zu bieten, obwohl sich das nicht unbedingt rechnete; Malte Roeper, Robert Rauch, Robert Steiner kamen später dort raus, und die „Poeten des Abgrunds“, eine Sammlung internationaler Kletterepics, ist heute noch legendär.

Irgendwie verschlug es den Literatur-Begeisterten zum Magazin Alpin und seinem zynischen, aber brillanten Chefredakteur Georg Schimke, von dem er neue Kniffe für wirksame Sprache lernte. Über die legendäre Klettermeisterschaft in München 1988 ließ er Irmgard Braun einen Text schreiben, der gut gefiel, im Jahr drauf wurde sie zur Recherche in den Frankenjura geschickt, wo ich gerade als junger Bergführeraspirant auf Frauensuche war – so schließen sich Kreise. Ich durfte dann einen Quasi-Probetext über meinen heimatlichen Battert schreiben, der auch gut ankam, und Nicho lancierte mich als seinen Nachfolger, als er zum DAV wechselte; auch fürs DAV-Lehrteam empfahl er mich über seinen Freund Bernd Neubauer. Danke, Nicho! Auch für die journalistischen Handwerkskniffe, die Du mir während der gemeinsamen Wochen bei Alpin mitgegeben hast.

Irgendwie war der Nicho immer dort, wo sich etwas entwickelte – und nicht selten entwickelte es sich dank seinem Engagement. Anfangs der 1990er-Jahre war das Hauptproblem der Kletterer eigentlich nicht der elfte Grad, den Wolfgang Güllich 1991 mit Action Directe verwirklichte, sondern dass übereifrige und politisch frustrierte Naturschutz-Aktivisten die Felsen zur Ersatzbefriedigung missbrauchten. Cem Özdemir schrieb einen Artikel „Wildwest auf der Schwäbischen Alb“, der Nabu gab eine Broschüre heraus, in der auf einem Bild ein Kletterer mit Bollerstiefeln und Steigeisen in ein Vogelnest tritt, in NRW wurden fast alle wichtigen Felsen mit hanebüchenen Begründungen gesperrt.

Nicho war beim DAV an der richtigen Stelle, etablierte ein bundesweites Netz regionaler Arbeitskreise Klettern und Naturschutz, die die Diskussionen mit den Behörden mit Augenmaß führen sollten – Vorbild war der Arbeitskreis Battert, den mein Vater 1984 gegründet hatte; in Ebersteinburg fand die Gründungssitzung für die Bundes-Struktur statt, bei der sogar der sonst nicht sonderlich initiativ-freudige AV-Vorsitzende Josef Klenner anwesend war.

Irmgard und ich hatten uns an der Gründung der IG Klettern Donautal beteiligt. Als dort die Sperrungen um sich griffen, entstand in einem Brainstorming mit Nicho die Idee der Seilschaftskette durchs Donautal – Nicho organisierte, stark unterstützt von seinem einstigen Jungmannschaftskumpel Roland Stierle, heute DAV-Präsident. Einige tausend Kletterer stellten sich durchs ganze Donautal auf, 30 km von Beuron bis Sigmaringen, und kamen zur Abschlusskundgebung mit Heiner Geißler; ein Highlight des Kletterer-Engagements gegen das Haberfeldtreiben der Ökoisten.

Irmgard und ich waren nun auch in München und haben einiges mit Nicho und Liz unternommen; die beiden hielten auch als Trauzeugen unsere Ronja im Arm. Sie organisierten einen Yogakurs für die Sektion Bayerland, eine geweihte buddhistische Figur steht in unserem Regal. Den Gedanken an ein buddhistisches Dreijahres-Retreat ohne Kontakt zur Außenwelt hat Nicho zum Glück fallen lassen – in der Welt der Menschen gab es viel zu tun. Klassisch alpinistisches, wie die Winterbegehung der Civetta-Nordwestwand über die kaum begangene Haupt-Lömpel-Führe, zusammen mit Georg Kronthaler, der beim DAV als Postler arbeitete.

Aber auch viel Neues, etwa mit Liz auf Seekajaks durchs Mittelmeer zu fahren. Einige Zeit lang stand sogar ein Segelboot in seinem Garten – wenn Nicho sich für eine neue Idee begeistert, ist er ein richtiger Feuerkopf. Man könnte auch sagen: ein Strohfeuerkopf, denn oft wird die eine Idee bald von der nächsten abgelöst.

Es gibt aber auch Konstanten in seinem Leben: Das Bouldern etwa hat den Nicho seit jeher begeistert – von Highballs im Odenwald über Ausflüge ins Zillertal bis zum Spaß in den modernen Boulderhallen; für Bayerland hat er eine Bouldergruppe initiiert, um Nachwuchs anzuziehen.

Und es gab auch dauerhafte, ernste Themen und Diskussionen um den Alpinismus, um die sich Nicho kümmern musste. Als DAV-Zuständiger für Klettern+Naturschutz bastelte er mit Georg Schimke eine Imagebroschüre fürs Klettern, ließ Richard Goedeke den „Kletteratlas Deutschland“ schreiben, half beim Aufbau des „Kuratoriums Sport und Natur“, einer Lobbyorganisation für Outdoorsport.

Und die Mittelgebirge waren nicht der einzige Brennpunkt. Im Wilden Kaiser waren Bohrhaken an der Abseilpiste des Bauernpredigtstuhls abgesägt worden, in den Tannheimern Bolts, die Toni Freudig gesetzt hatte, und ein Beitrag von mir im Alpenvereinsjahrbuch, der Bohrhakenfeinde als Behinderer der Entwicklung schimpfte, trug nicht zur Deeskalation bei. Nicho organisierte mit der Sektion Bayerland zwei Sprechabende, zu denen sogar Reinhold Messner anreiste – und brachte dann im Auftrag von DAV und ÖAV prominente Vertreter der Plaisir- wie der Abenteuer-Fraktion zusammen. Wie üblich, legte er zur Diskussion ein vorab formuliertes Kompromisspapier vor, statt zu versuchen, vor Ort die Meinungen zusammenzufassen. Andi Orgler, der Abenteuerpapst, geißelte es als Plaisir-Machwerk; ich, der Plaisirheini, schimpfte, dass es viel zu traditionell sei – und Nicho klatschte in die Hände: So passt der Kompromiss. Unter dem Titel „to bolt or not to be“ wurde das Papier von der UIAA übernommen und ist bis heute eine Grundlage für regionale Diskussionen über die Gestaltung alpiner Kletterreviere.

Noch dicker als die Bohrhakenfrage war das Brett, das er sich 2002 gemeinsam mit Robert Renzler vornahm, dem Generalsekretär des ÖAV, auf Anregung des legendären ÖAV-Vorsitzenden Louis Oberwalder. Nichts weniger als ein ethisches Fundament und ein Verhaltenskodex für den zeitgemäßen Alpinismus war das Ziel der später so genannten „Tirol Deklaration“, für die sich in Innsbruck weit über hundert internationale Topalpinisten zwei Tage lang austauschten: darunter Chris Bonington, Doug Scott, Tom Frost, Marko Prezelj, Nazir Sabir, Tommy Caldwell, Beth Rodden. Wie viel Wirkung diese Deklaration hatte, darüber ist Nicho nicht allzu optimistisch-euphorisch. Aber man musste es ja versuchen – sonst hätte es niemand gemacht. Und er hält die Tirol Deklaration für eine seiner wichtigsten Initiativen.

Dabei hatte er es in dieser Zeit nicht leicht bei seinem Arbeitgeber DAV. Der entwickelte sich unter der Leitung von Ali Siegert und Alex Hartinger, während der Vorstandschaft von Josef Klenner, zum so genannten Alpen-ADAC. Der ÖAV hatte die Zeitschrift Berg&Steigen etabliert, wir witzelten, dass ein entsprechendes DAV-Blatt Mark&Ting heißen müsste. Elmar Landes, Redakteur der Mitteilungen, nahm in dieser Zeit seine frühestmögliche Rente, Pit Schubert ging, und auch für Nicho war das kein Platz mehr. Aber nur von außen zusehen ist nicht sein Ding. Seine Bayerländer Sektionskameraden Michi Olzowy und Herwig Sedlmayer setzten sich in hohen Vereinsämtern für das Bergsteigen ein, und zumindest die profitorientierten Geschäftsführer Siegert und Hartinger mussten gehen. Dann zog er insgeheim an Fäden, dass Mimo Röhle Präsident und ich Vizepräsident wurden – doch Mimo scheiterte an seiner professoralen Überheblichkeit, ich am Wuchten an den großen Hebeln. Außerdem musste ich dann zum Geldverdienen vom Ehrenamt in den Redaktionsjob bei Panorama wechseln, wo ich zumindest an kleinen Rädchen drehen konnte.

Das war unter anderem auch die mühsame Arbeit, dass zum Sichern beim Sportklettern die sogenannten Halbautomaten empfohlen werden sollten statt Tube und HMS, bei denen eine Fehlbedienung schnell zum Bodensturz führen kann. Nicho setzte sich dafür als Vorsitzender des Bayerischen Kletterverbandes ein, in dem er auch die Wettkampfstrukturen im Land optimierte; ich diskutierte in den DAV-Lehrteams und versuchte, Panorama-Artikel entsprechend zuzuspitzen – aber letztlich war es ein Vorpreschen von Michi Larcher beim ÖAV, der der Vernunft endlich den Weg öffnete.

Derweil hatte Nicho wieder ein neues Projekt gefunden, das sein vernetztes Superhirn auslasten konnte, sein ungeheures Gedächtnis für die kleinsten Details und sein Gespür für Zusammenhänge.

Über die Verwicklungen des DAV im Dritten Reich hatte zuerst Helmut Zebhauser ein Buch geschrieben, das eher beschönigend wirkte; Rainer Amstädter legte dann einen Wälzer vor, der viele Vorwürfe in den Raum stellte. Nicho wühlte sich monatelang in die DAV- und ÖAV-Archive, studierte Briefwechsel und Fußnoten und entwickelte ein detailliertes, differenziertes Bild, das er im Buch „Im Zeichen des Edelweiß“ über München als Bergsteigerstadt niederlegte. Er widerlegte die Legende vom Arierparagraphen, dokumentierte wie Bergsteiger ihre jüdischen Kameraden retteten, benannte aber auch Nazitreiber und Täter wie Arthur Seyss-Inquart, DAV-Vorsitzender während des Zweiten Weltkrieges und hingerichteter Ghettokommandant.

Natürlich gab es bei diesem Thema nicht nur Applaus. Doch das schlimmste Opfer traf Nicho mitten ins Herz. Der Endspurt der Druckfreigabe beanspruchte ihn und seine geliebte Liz grenzwertig; bei einem Erholungs-Kletterausflug seilte sie übers Seilende ab, stürzte zwanzig Meter ab – und nach einem Jahr des medizinischen Kampfes mit vielen Operationen verlor Nicho die Liebe seines Lebens. Seither muss sich das Leuchten in seinen Augen durch einen grauen Schleier kämpfen.

Aber die Nazi-Fragen waren noch nicht alle geklärt. Nicho konnte den DAV dazu bringen, ein historisches Projekt aufzusetzen, das in einem Abschlussbuch und einer Ausstellung mündete – und er steuerte weitere unverstandene Zusammenhänge aus den internationalen Archiven bei, die er in akribischer Kleinarbeit zusammengepuzzelt hatte wie früher die Bewegungslösungen für seine Erstbegehungen.

Nach dem Tod seiner Liz bot ihm der DAV wieder eine Heimat: Der Hauptgeschäftsführer Thomas Urban, Weggefährte seit der Donautal-Demo, engagierte ihn als Sekretär für das Kuratorium Sport und Natur, das Nicho einst mit aufgebaut hatte, um politische Lobbyarbeit für den Natursport zu machen und Gesetzentwürfe auf Stolperfallen zu durchleuchten. Wir sahen uns damals immer wieder in der DAV-Bundesgeschäftsstelle. Und diskutierten begeistert über seine Idee, in den deutschen Großstädten in öffentlichen Parks Outdoorsport-Möglichkeiten zu schaffen: Boulderblöcke, Skaterparks, Wasserläufe, an denen auch benachteiligte Jugendliche sich austoben und Freunde finden konnten. Wieder mal eine Idee, die zu weit gedacht war für ihr Publikum und ihre Zeit – enttäuscht verließ Nicho zum zweiten Mal den DAV und ging in Rente.

Aber natürlich gab es ein weiteres Projekt. Peter Aufschnaiter, von Heinrich Harrer in seinem Buch „Sieben Jahre Tibet“ nicht sonderlich gewürdigt, erschien ihm interessant.

Nicho durchstöberte mit dem ihm typischen terrier-haften Biss die Archive des Vatikan, des englischen Geheimdienstes und in nepalischen Klöstern, manövrierte knapp an einem Prozess mit der Familie von Paul Bauer vorbei – und wurde mit dem Buch „Er ging voran nach Lhasa“ zum „speaker for the dead“ für Peter Aufschnaiter. Darin zeigt er durchaus dessen dunkle Seiten: die Nähe zum braunen Machtmenschen Bauer, die Beziehungen zum englischen Geheimdienst. Aber er porträtiert auch einen sehr menschlichen Menschen, der fließend tibetisch redete und die Schlüsselfigur zum Dalai Lama war – den Nicho und Liz übrigens persönlich kennenlernen durften.

Zwischendurch brachte Nicho noch Klarheit in die Geschichte des Freikletterns. Was er da zusammengetragen hat, wird vielleicht nicht jedem hier im Saal gefallen, gerade deshalb möchte ich es aber erwähnen, auch als Beispiel für seine akribische Arbeitsweise. Er begnügt sich nämlich nicht mit dem Studium der Sekundärliteratur, sondern durchwühlt Primärquellen wie Briefe, Protokolle von Vereinssitzungen, die alten Vereinszeitschriften oder sucht persönlichen Austausch mit noch lebenden Zeitzeugen – wie etwa auch für sein Buch über die Geschichte des Kletterns auf der Schwäbischen Alb. So konnte er belegen, dass die Idee des Freikletterns nicht etwa im Elbsandstein erfunden wurde, sondern nur dort eine gute Heimat fand; die ursprünglichen Einflüsse kamen aus Großbritannien und Wien. Und dass das stilreine Freiklettern in den USA so gut gedieh, ist auch dieser britischen Tradition zu verdanken und nicht etwa Fritz Wiessner. Der war zwar eine Legende in seinem Klettergebiet Shawangunks und stand ums Arschlecken auf dem K2, aber beispielsweise die Kalifornier kletterten aus Tradition und Prinzip frei, nicht wegen dem, was Fritz an der Ostküste tat. Sogar Dieter Hasse war schließlich imstande, diese Tatsachen zu akzeptieren, obwohl er die Wiessner-Legende ins Leben gerufen hatte.

Und dann waren da noch die Juden. Und wie im DAV mit ihnen umgegangen wurde. Seit dem Edelweiß-Buch ein Thema, das Nicho bewegte. Er thematisierte, dass Paul Preuss, der idolisierte Vordenker des Freikletterns, jüdischer Abstammung war, deshalb von den stark antisemitischen Wiener Alpenvereinlern totgeschwiegen wurde – und lieferte mir Material für Artikel über Preuss in den Mitgliederzeitschriften von DAV und ÖAV. Preuss war übrigens auch in der gerade erwähnten Wiener Schule sozialisiert worden, die sich unter dem Erznazi Eduard Pichl aber eher dem Braunpunkt-Klettern widmete.

Als sich die Paul-Preuss-Gesellschaft gründete, um Leitfiguren des ernsten alpinen Kletterns mit einem Preis auszuzeichnen und diese Facette des Bergsports zu fördern, war Nicho dabei. Und jahrelang arbeitete er, unterstützt von seinem Freund Roland Stierle im DAV-Präsidium, daran, dass der DAV zum Jubiläum „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ 2021 in einer Veranstaltung seine Geschichte dazu erzählen sollte. Als diese dann endlich Wirklichkeit wurde – Charlotte Knobloch war leider gesundheitlich verhindert – konnte er seinen zentralen Vortrag nicht halten: So stark hatten ihn die politischen Grabenkämpfe zermürbt, dass er sich dem öffentlichen Auftritt nicht gewachsen fühlte. Nicho, ich freue mich, dass ich Dich dort vertreten durfte – und auch sonst bei so vielen wichtigen Themen dein Wegbegleiter, Sparringspartner, Assistent sein durfte.

Nicho ist ständig getrieben von Projekten und Zielen. Seit dem Ende seiner eher egoistischen Sportkletter-Pionier-Phase sind das meist Themen, die irgendwie eine bessere Welt fördern sollen; zuletzt die Diskussion ums DAV-Leitbild oder die Arbeit in der Sektion Bayerland als Naturschutzwart und nun für die Jugendarbeit und das Bergsteigen. Oft hat er angerufen, um Mitstreiter dafür zu gewinnen; gelegentlich auch habe ich abgesagt, weil ich meine Belastung begrenzen wollte. Nun scheint es auch bei Nicho so weit, dass er des ständigen Kurbelns müde wird – oder endlich seine eigene körperliche und seelische Gesundheit wichtiger nimmt. Ein, wie er sagt, wirklich letztes Buchprojekt will er noch erledigen: Die Geschichte der Edelweißgilde Kitzbühel, initiiert von Peter Brandstätter, wird wieder ungeahnte Zusammenhänge aus den dunklen 1930er-Jahren aufdröseln.

Und dann hat Nicho endlich Zeit für sich selbst. Und für mehr solche Aktionen wie in den letzten Jahren. Wie etwa mit dem Fahrrad über die Alpen nach Italien und Assisi. Oder eine Winterwanderung rund um München, etappenweise von einer S-Bahn-Station zur anderen, quer über Moos und Moor. Für den „Bayerländer“ hat er darüber eine Geschichte geschrieben, aus der ich noch einmal ihn selbst zu Wort kommen lassen möchte.

Am Freitag, den 10. Dezember, stand ich am frühen Nachmittag am Nordufer des Starnberger Sees und blickte nach Süden. Hinter mir lag eine lockere Etappe. Die Grödel hatten das Wandern auf den vereisten Forstwegen zum entspannten Vergnügen gemacht. Nun erhoben sich jenseits des Sees die bewaldeten Berge des Mangfallgebirges, des Estergebirges und der Ammergauer in verwaschenem Grau über den sich scharf abzeichnenden Wäldern der Ebene. Die hohen Gipfel des Karwendels und Wettersteins gingen konturlos über in fahles Gewölk, beleuchtet von einer Sonne, die sich als schmutziger heller Fleck im Geäst der Eichen am Seeufer verfangen zu haben schien. Auf vielen der vor mir liegenden Berge war ich schon gestanden. Aber jetzt gehörten sie einer fernen fremden Welt an, von der keinerlei Verlockung ausging.

Keinerlei Verlockung? So genau weiß man das nie beim Nicho. Vielleicht lässt er sich doch noch einmal hinreißen zu Erstbegehungen mit der Jungmannschaft von Bayerland in der Presanellagruppe. Wir werden nicht viel davon hören. Und das ist ja auch ok; Nicho legt schon lange keinen großen Wert mehr darauf, dass man über ihn redet.

Am liebsten war es ihm immer, unter dem Rader die wichtigen Strippen zu ziehen. Dinge zu bewegen, ohne ins Rampenlicht zu geraten. Dem Unerhörten eine Stimme zu geben, dem Notwendigen ein Anwalt und Treiber zu sein. Dinge ins Licht zu stellen, nicht sich selbst.

Lieber Nicho: Ich glaube, dabei ist Dir sehr viel gelungen. Deine Verdienste können kaum genug gewürdigt werden, ein „Berggeist des Jahres“ ist nur ein Symbol dafür. Buddhistisch gesprochen, solltest Du einen Riesenhaufen gutes Karma aufgestapelt haben. So dass Du in deinem nächsten Leben nicht – wie in einer berühmten englischen Klettergeschichte – als Fliege auf einem Scheißhaufen am Fuß der Große-Zinne-Nordwand neu anfangen musst. Sondern vielleicht als Schmetterling über einer duftenden Almwiese. Als Delphin, der zwischen tiefgründigen Tauchgängen seine Luftsprünge macht. Oder als Adler, der in weiten Kreisen über dieser Welt entlanggleitet.